Üben in Harmonie mit der Dualität
Im Leben eines Musikers und auch dem einer Musikerin nimmt das Üben sehr viel Raum ein. Manche üben stundenlang, Anderen reichen wenige Minuten am Tag. Das Interessante dabei ist, dass das Können nicht unbedingt von der Quantität des Übens abhängig ist, sondern - oh Wunder - von der Qualität. Das mag erstmal selbstverständlich klingen, doch gibt es nicht wenige Musiker, die trotz fleißigem Üben weniger erreichen als sie sich wünschen, während Anderen die Musik scheinbar zufliegt.
Man ist dann geneigt, von „Genie“ zu sprechen. Man empfindet beim Genie eine Vollkommenheit. Ich möchte nun einmal der Frage nachgehen, wie man beim Üben in die Vollkommenheit findet - wie man das Genie in sich zum Leben erweckt. Gehen wir zuerst dem Begriff Vollkommenheit nach. Die Chinesen sagen, es ist nicht „Eins“, nicht „Zwei“, sondern die 10 000 Dinge. Auch hierzulande symbolisiert das Überschreiten der Dualität die Vollkommenheit im Sinne der Dreifaltigkeit. Doch hilft es uns schon weiter, wenn wir vorerst in der irdischen Dualität „das Beste rausholen“. Wenn man an Dualität denkt, kommt eine Polarität in den Sinn. Eine Gegensätzlichkeit. In der Musik findet sie sich in starken Kontrasten, in Licht und Schatten, wie man es seit dem Barock gerne beschrieb, wenn man von laut und leise sprach. Aber auch im Wechsel von schnellen und langsamen Sätzen, von kantablen Arien und virtuosen Passagen. Der Kontrast erst macht die Musik lebendig. Auch ein Musiker wirkt charismatisch, wenn er eine gewisse Vielschichtigkeit an den Tag legt, also gesanglich zu Tränen rührt und im nächsten Moment mit Virtuosität brilliert.
Wie erreichen wir als Musiker diese Vollkommenheit, die wir an den großen Interpreten bewundern? Wie müssen wir üben, wenn wir kein Genie sind oder dieses in uns noch nicht entdecken konnten, weil wir nicht richtig geübt haben?
Es liegt in der einseitigen Art zu üben. Es gibt zwar zahlreiche Strategien, das Üben sehr abwechslungs- und kontrastreich zu gestalten, doch fehlt in den meisten Strategien etwas Entscheidendes: Es liegt in der Unausgeglichenheit von Männlichkeit und Weiblichkeit. Auf diesen beiden Urprinzipien besteht alles Leben. Im Zusammenführen dieser polaren Gegensätze entsteht das „Runde“, das Vollkommene“ - das Genie. Ich wage also zu behaupten, dass das Genie sich dadurch auszeichnet, dass männliche und weibliche Anteile in ihm harmonieren - keiner zu stark ist und keiner unterdrückt wird. Sieht man sich die großen Persönlichkeiten an, die man als Genie erkennt, so findet man starke Polaritäten in ihnen vereint. Vergleicht man einen Frederic Chopin mit einem Franz Liszt, so erscheint uns Liszt durchaus genial, aber vollkommener mutet Chopin an. Woran mag das liegen? Chopin verkörpert sehr viele weibliche Anteile in seinem Charakter. Bei Liszt scheinen die männlichen etwas mehr vorzuherrschen. Ein anderer sehr genialer Komponist ist Franz Schubert, der ebenfalls durch seine weichen Züge auffällt, genauso wie die Dichter der Romantik ein Gespür dafür hatten, Weiblichkeit in ihrem männlichen Körper und Geist Raum zu geben - beginnend mit den Genies der Epoche der Empfindsamkeit, durch die der Geniekult erst möglich wurde. Die Romantiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht allein auf den Verstand des aufgeklärten Menschen beschränken, sondern Gefühl, Naturverbundenheit und Intuition wertschätzen. Doch auch schon vorher zeigt sich der „moderne“ Mann viel weiblicher als der heutige. Die Garderobe, mit Rüschen und Zierrath geschmückt, war nicht peinlich oder kitschig, sondern Zeichen von Größe und Ansehen. Das Barockzeitalter, dessen Bezeichnung sogar auf der „Weiblichkeit“ des damaligen Geschmackes beruhte, basierte auf der Renaissance des goldenen Zeitalters der Antike, welches ebenfalls, wie Platons Kugelmenschen bezeugen, auf der Polarität zwischen Männlein und Weiblein beruhte.
Wollen wir nun also der Frage nachgehen, wie sich durch das Wissen der Bedeutung dieser Polarität unser Üben vervollkommnen lässt.
Um zuerst einmal zu beleuchten, wie das ausgewogene Üben nicht aussieht, stelle ich die männlichen und weiblichen Herangehensweisen an das Üben gegenüber. Viele werden erkennen, dass ihr Üben nicht harmonisch alle Anteile beider Listen beinhaltet, sondern, dass eine der beiden Kategorien vorherrscht. Sollte dies nicht der Fall sein, können sie gewiss sein, dass es sich bei Ihnen um einen begnadeten Musiker bzw. eine begnadete Musikerin handelt. Auf dieser Basis gewinnt auch die Bezeichnung MusikerIn einen Sinn, weil jeder Mensch als MusikerIn oder Musiker*in beide Anteile, männliche und weibliche gleichermaßen verkörpert, ganz unabhängig von körperlichem Geschlecht.
Zunächst die männlichen Arten des Übens. Ich würde sagen, dass diese bei Profimusikern, sprich bei Studierenden und Orchestermusikern vorherrschen.
Männliches Üben beinhaltet ein erfolgsorientiertes Üben. Wie es in unserer Gesellschaft auch der Fall ist, scheint alles Tun sich auf ein Ziel auszurichten, welches in einer gewissen Zeit erreicht werden muss, um etwas Weitergehendes zu erreichen. Dieses Ziel kann ein Studienplatz, der Gewinn eines Wettbewerbs, eine Prüfung oder eine Orchesterstelle sein. Auch das Ziel als Solist oder Solistin auftreten zu können wird strategisch verfolgt; vorausgesetzt, man verfügt über die Ausdauer, die Stärke und Zielstrebigkeit, um erfolgreich zu sein. Die Laufbahn eines Profimusikers erfordert folgende Eigenschaften:
Aktivität
Ausdauer
Belastbarkeit
Disziplin
Effektivität
Effizienz
Entscheidungswillen
Fokus
Handlungsbereitschaft
Klarheit
Konkurrenzdenken
Kontrolle
Konzentration
Leistungsbewusstsein
Mut
Reflektion
Stärke
Struktur
Verstand
Zielstrebigkeit
Dies sind die vorherrschenden Eigenschaften, welche gemeinhin in unserer Zeit zu Erfolg führen. Möglicherweise oder vielleicht auch unmöglich zu Erfüllung oder gar Vollkommenheit - denn - es fehlen die weiblichen Eigenschaften zu einem erfüllten Kugelmenschen in Platons Sinne.
Die weiblichen Eigenschaften wären:
Empfangen
Empfindsamkeit und Gefühl
Entspannung
Erschaffen, Gebähren
Gemeinschaft
Heilsamkeit
Hingabe
Inspiration
Intuition
Kreativität
Liebe und Herzöffnung
Loslassen
Medialität
Passivität, Geschehen lassen
Sinnlichkeit
Traum
Verbundenheit
Verletzlichkeit
Vertrauen
Weichheit
Hobbymusiker verfügen oft noch mehr über die weiblichen „Übequalitäten“, da sie kein Ziel verfolgen, sondern zur eigenen Freude und zum eigenen Genuss musizieren. Automatisch wird das Musizieren dann intuitiver, sinnlicher, genüsslicher und auch heilender. Die Liebe zur Musik wird nicht so leicht durch zu hohe Ansprüche erdrückt. Eine hohe Virtuosität erreichen jedoch auch Hobbymusiker, wenn sie eigenen Ansprüchen gerecht werden wollen, so dass Disziplin und Handlungsbereitschaft zu großen technischen Fertigkeiten führen kann.
Den wahren Musiker jedoch zeichnet aus, dass er beide Polaritäten vereint, dass er also kontrolliert, jedoch im richtigen Moment die Kontrolle abgibt und loslässt. Dass er über Ausdauer verfügt, aber auch pausiert und vertraut. Dass er im Ensemble aktiv führt, jedoch ebenso folgt. Dass er über eine Reflexionsfähigkeit verfügt, aber auch über Intuition. Dass er strukturiert vorgeht, jedoch sich auch dem Moment hingeben kann und kreativ bleibt. Indem er ein gewisses Konkurrenzdenken hat, um sich selbst zu mobilisieren, jedoch die Verbundenheit und die Herzöffnung nicht verliert. Viele üben auch so leistungsorientiert, dass das routinierte, zielgerichtete Üben zu Verkrampfungen führt. Sie versäumen es zu entspannen und erkennen nicht die Heilkraft, die in der Musik steckt. Auf der Bühne braucht der vollkommene Musiker Mut, doch er braucht besonders den Mut zur Verletzlichkeit, so dass er sich hingeben kann, die Kontrolle abgeben und vertrauen.
Ein Musiker oder eine Musikerin, der oder die in der Verbindung der polaren Eigenschaften ihre männlichen und weiblichen Qualitäten verbindet, wird zu einem platonischen „Kugelmenschen“ oder „Kugelmusiker“, einem vollkommenen Menschen und vollkommenen Musiker - zum Genie.
Im Folgenden möchte ich, da die Männlichkeit das Musikerleben noch beherrscht, insbesondere auf das Integrieren von Weiblichkeit im Üben eingehen.
In der Kategorie Konzepte finden sie nach und nach meine Beiträge zu kreativem Üben, die der Leistungsorientierung unserer Zeit einen Gegenpol setzen sollen, und zwar am besten schon vor Beginn der musikalischen Ausbildung. Am besten vom ersten Tag des Lebens an. Hierzu verweise ich auf meine Seite „zuckergeist.com".
Nervosität und Lampenfieber
"Einer großen Fuge gleich, ist die Welt an Tönen reich,
solchen, die in Terzen reigen, and’ren die sich weit entzweigen"
Nervosität und Lampenfieber
Die Nervosität gehört zum Musiker wie sein Instrument oder seine eigene Stimme. Natürlich gibt es immer wieder Virtuosen, die von sich behaupten, dass sie keine Nervosität kennen würden. Ich denke, dass jeder Musiker Lampenfieber kennt, dass nur ihr Umgang damit ein anderer ist. Sie haben Strategien gefunden, die sie in die Illusion fallenlässt, nicht “nervös” zu sein. Dazu gleich mehr! Heutzutage ist das Wort „nervös“ eindeutig negativ besetzt. Man hat einen unruhigen Menschen vor Augen. Nervosität wird gleichgesetzt mit innerer Unruhe, Unausgeglichenheit und mangelnder Konzentration. Der Geist eines nervösen Menschen ist ständig in Bewegung. Sein Blick ist nicht fixiert, er wandert von Ort zu Ort und spiegelt als Fenster der Seele die Haltlosigkeit des Geistes wider. Auch in der Bewegung zeigt sich die Ruhelosigkeit. Arme und Beine sind rastlos, sie wippen, sie „scharren mit den Hufen“, sie zappeln und finden keine Ruhe. Ein nervöser Mensch scheint unausgeglichen, ihm fehlt die Balance und natürlich die Muße. Viele Musiker reagieren auf Nervosität mit Angst. „Ich bin so nervös“, sagen wir gerne vor einem Auftritt. Während es die Einen ehrlich aussprechen, sagen es die Anderen mehr zu sich selbst. Sie versuchen dann, die Nervosität zu verbergen oder zu überspielen. Doch ein Gefühl will sich zeigen. Es will heraus aus dem Körper. Ein Gefühl wirkt zwar auf den Körper, doch es lässt sich nicht gefangen nehmen. Es zeigt sich, indem es den Körper vereinnahmt und ihn zwingt, das Gefühl zu bemerken. Schon vor dem Auftritt nimmt die Nervosität den Musiker gefangen. Der Fluchtreflex tritt ein und vermittelt dem Nervösen, er müsse viel eher noch mal das stille Örtchen aufsuchen, als auf die Bühne zu stürmen. Meterlange, legendär gewordene Schlangen von Chormitgliedern reihen sich vor der Toilettentür auf, und versuchen den Moment des großen Auftritts noch ein wenig aufzuschieben. Befreit von Ballast steht es sich ja auch leichter auf der Bühne. Solisten laufen ruhelos auf der Seitenbühne auf und ab, wie der Tiger im Käfig. Doch nicht nur vor dem Auftritt fühlen wir die Nervosität, nein, sie verfolgt den Musiker auch weiter auf die Bühne. Der Arm des Geigers beginnt zu zittern. Die Knie des Musikers werden weich und nehmen ihm den sicheren Stand. Der Atem beschleunigt sich und bringt nicht nur Bläser und Sänger in Atemnot. Die Nervosität kann den Musiker im wahrsten Sinne des Wortes schütteln und all seine Aufmerksamkeit von der Musik abziehen und auf die Symptome seines nervlichen Zustandes lenken. Nichts scheint mehr zu funktionieren. Jeder Muskel, der Geist, und der ganze Mensch wird fest. Sein Wille strebt zum Ausgang, doch er muss auf der Bühne verharren. Ist der Weg zur Tür zu weit, so möchte man am liebsten gleich „im Erdboden versinken“. Alle feinmotorischen Errungenschaften weichen dem grobmotorischen Fluchtreflex und nichts geht mehr; scheinbar. Geist und Körper machen sich selbständig, sie hören nicht mehr auf den freien Willen des Menschen. Alles wird eng, fest, fast starr vor Angst. Dies führt mit sich, dass alles zittert; als wenn der Künstler von einem plötzlichen Fieber geschüttelt würde. Und tatsächlich kennt auch jeder diese „Krankheit“, das Lampenfieber. Scheinwerfer blenden den Musiker wie beim Verhör, der freie Blick auf den Gesprächspartner ist nicht mehr möglich. Den Arm schützend vor die Augen halten kann der Musiker nicht. Das Publikum wird zu einer großen, unpersönlichen dunklen Masse, die dem Künstler nicht nur zuhört, sondern ihn verhört. Die Zuhörer scheinen ihn streng zu beobachten, seine Persönlichkeit praktisch zu durchleuchten und auf falsche Aussagen förmlich zu warten, sprich Fehler in seinem Spiel gnadenlos bloßzulegen. Das Publikum wirkt tatsächlich auf viele Musiker wie ein Feind. Es wirkt wie eine Bedrohung, die den Musiker in die Flucht schlägt.
Vor was aber wollen wir davonlaufen, was genau ist es, dass uns so bedrohlich erscheint? Die Fuge, welche zu deutsch „Flucht“ bedeutet, soll uns als Veranschaulichung unserer Ängste auf dem Podium dienen. Die Fuge ist der Inbegriff eines Musikstücks, das an Komplexität und kompositorischen Anforderungen nicht zu überbieten ist. Für Komponisten ist die Fuge das Aushängeschild ihres Könnens. Eine Fuge verstehen und eine Fuge selbst schreiben zu können, bezeugt dem Komponisten die vollendete Meisterschaft in seinem Fach. Die Fuge zeugt von Reife und symbolisiert einen Menschen, der etwas erreicht hat in seinem Leben. Komponisten, die sich mit dem Höchsten nicht zufrieden gaben, komponierten Doppel,- Tripel, ja Quadrupelfugen und hinterließen der Nachwelt ein Zeugnis ihres Genies. Und so ist die Fuge auch ein Symbol für das Geniale, das Unerreichbare und das Übermenschliche. Wie eine Kathedrale strebt die Architektur der Fuge gen Himmel, sie symbolisiert das Erhabene, das Sublime, das Göttliche. Welchen Anspruch erlegt diese Komposition dem Musiker auf. So steht er als Vertreter des Genies nun auf der Bühne, um diese Komposition in Klang zu verwandeln. So komplex die Fuge komponiert ist, so überbordend ist auch die technische Anforderung an den Interpreten. Der Musiker findet sich in der Situation wieder, nicht nur eine Stimme mit seinem Instrument zu erheben, sondern zwei, drei oder gar mehrere. Und diese Stimmen leben nicht im Einklang miteinander, sind in Terzen und Sexten parallel geführt und geben sich mit „einfachen Doppelgriffen“ zufrieden. Diese Stimmen schwelgen nicht in Harmonie, sondern sie verfolgen sich, sie überlagern sich. Sie bedrängen sich, werden immer vertrackter, verwickeln sich in Kontrapunkte und verzahnen sich trotz alledem so genial miteinander, dass im Endeffekt etwas entsteht, das eine ganze Welt zusammenhält. Einer großen Fuge gleich, ist die Welt an Tönen reich. Und diesem Reichtum an Noten, an Stimmen, an Tönen und Klängen, die sich alle zu dem großen Kunstwerk der Fuge vereinen, sieht sich der Musiker auf der Bühne verpflichtet. Diese Anforderung an den Interpreten ist übermenschlich. Er steht dort im Rampenlicht als Vertreter einer ganzen Welt. Einer Welt, die über das Menschliche herausragt, wie eine Kathedrale in den Himmel. Der Musiker kann dieser Aufgabe nicht gerecht werden, und das macht ihn – zu recht – nervös. Er sieht sich in einer Situation, der er sich im wahrsten Sinne des Wortes, nicht gewachsen fühlt. Im Anblick der von ihm erwarteten Herrlichkeit, fühlt er sich plötzlich klein. Er wird zum Kind. Doch genau in dieser Demut eröffnet sich der einzige Weg für den Musiker, seiner herrlichen Aufgabe gerecht zu werden. Ihm bleiben zwei Möglichkeiten. Er kann die Flucht ergreifen. Zumindest kann sein Körper sich auf den Fluchtgedanken vorbereiten. Er kann all seine Konzentration in die zur Flucht notwendigen Glieder ziehen. Arme und Beine werden unruhig, sie zielen in Gedanken in Richtung Ausgang. Alles Blut schießt aus dem Kopf heraus in das Zentrum des Körpers, der Herzschlag beschleunigt sich. Die Feinmotorik wird ausgeschaltet, um alle Kraft zu ballen und den Körper fliehen zu lassen. Doch was passiert, wenn der Körper nicht fliehen darf? Wenn er gefangen ist von den unsichtbaren Fesseln des Anstands, der Verantwortung und dem Ehrgeiz? Wenn er dort steht, in dem Dilemma zwischen Fluchtgedanken und Pflichtgefühl? Natürlich kann er nicht einfach von der Bühne stürmen; alles fallen und liegen lassen. Er fühlt sich klein wie ein Kind. Oder eine Maus vor der Katze. Scheinbar machtlos versucht er den Auftritt unbeschadet hinter sich zu bringen. Er sehnt das Ende des Stückes herbei und wünscht, dass es so schnell wie möglich vorüber gehen solle. Das Ziel vor Augen huscht er über die Musik hinweg. Die Konzentration auf den Klang und die Musik zu richten ist mit einer solchen Zielstrebigkeit nicht möglich. Seine Gedanken streben in die Zukunft, sie verweilen nicht im Moment, welcher das Potential hätte, für diesen Augenblick den Himmel auf die Erde zu holen.
Die meisten “professionellen” Musiker haben Strategien entwickelt, dieser Angst zu begegnen. Eine Reaktion der meisten Musiker unserer Zeit ist, dass sie versuchen, der Nervosität mit Selbstkontrolle zu begegnen. Durch stundenlanges Üben und immerwährendes Wiederholen schwieriger Passagen werden die Bewegungen so tief im Unterbewusstsein zu verankern versucht, dass die Nervosität spielend verdeckt werden kann. Bewegungsabläufe werden automatisch abgerufen, so dass das Gehirn sich mit seinen Fluchtgedanken beschäftigen kann, ohne dass das Publikum dies mitbekommen würde. Der Bewegungsapparat funktioniert umso zuverlässiger, je tiefer die Bewegungen in das Unterbewusstsein eingebrannt sind. Und tatsächlich; das Üben hilft über Konzentrationsschwächen hinweg. Das Gefühl über den Dingen zu stehen, verleiht dem Interpreten Sicherheit. Es ist eine große Freude, zu erfahren, dass man den eigenen Körper unter Kontrolle hat. Es gibt dem Musiker ein Gefühl von Sicherheit zu sehen, dass die Bewegungen auch ohne innere Anteilnahme funktionieren. Je fleißiger geübt wurde, desto leichter gehen die technischen Schwierigkeiten von der Hand. Auch die schwierigsten technischen Herausforderungen lassen sich im menschlichen Gehirn so programmieren, dass sie jederzeit; Tag und Nacht, in Muße und auf der Flucht, makellos abrufbar sind. Doch eine Gefahr birgt sich in der Verlockung, die Musik unumstößlich unter Kontrolle zu bringen. Der Mensch fühlt sich wieder stark, er fühlt sich der Musik nun gewachsen; ihr sogar überlegen! Das Selbstbewusstsein, das aus der Kontrollfähigkeit über den Körper entsteht, wähnt den Musiker in der Sicherheit, über den Dingen zu stehen. Er fühlt sich stärker und größer als die Musik, da er sie bezwingen kann. Er fühlt keine Nervosität mehr und ruht in sich; auch das Publikum kann ihm nichts mehr anhaben. So schön das Gefühl von Sicherheit ist, so gefährlich ist es für die Vollkommenheit der Musik. Ist es nicht ein Gesetz der Natur, dass Menschen und auch Tiere mit erhöhter Aufmerksamkeit reagieren, wenn das leiseste Gefühl von Unsicherheit in ihnen auftaucht? Nervosität wird in unserer nach Perfektion strebenden Gesellschaft uneingeschränkt negativ bewertet. Nervosität jedoch zeugt von einer erhöhten Erregbarkeit, gleichzeitig aber auch von größerer Erregung. Ein Musiker, der von seiner Musik unberührt bleibt, weil er sie auf die letzte Nuance eingespeichert hat, zeigt keine Erregung. Ihm gebührt der Titel des Virtuosen und er verdient große Bewunderung. Doch ein solcher Virtuose hat leicht verlernt, dass Menschlichkeit mit Demut einhergeht. Ein demütiger Mensch weiß, dass er sich einer Aufgabe verpflichtet hat, die größer ist, als er selbst. Demut lässt den Menschen seiner Bedürftigkeit bewusst werden. Er weiß, dass es der Gnade bedarf, die Vollkommenheit der Musik empfinden und mit seinem Publikum teilen zu können. Ein begnadeter Mensch weiß, dass die technische Perfektion ein Trugbild ist, das von einem auf den anderen Moment in sich zusammenfallen kann. In dieser Demut des wahrhaft begnadeten Menschen wird die Musik zum Gebet. Martin Schleske baut Instrumente, die Geigern ein Medium geben ein solches Gebet aussprechen zu können. Er sucht die Vollkommenheit des Klanges in seine Instrumente zu gießen, die sich als Stimme des Musikers zu Gott erheben wollen. Der Gedanke, dass Musik in Klang gegossenes Gebet sei, ist ein tief romantischer. Im 19. Jahrhundert noch bestand kein Zweifel daran, dass die Vollkommenheit von Musik im allein virtuosen Spiel nicht zu finden sei, sondern dass es die menschliche Stimme ist, die sich voll von Gefühl, von innerer Erregung der Musik hingibt, sei es im Gesang oder mittels eines Instrumentes. Mit innerer Erregung, con espressione, zu spielen, war eine Grundvoraussetzung für jegliche musikalische Betätigung. Louis Spohr, der seiner Zeit den Bekanntheitsgrad eines Wolfgang Amadeus Mozart genoss, vermerkt denn auch, dass die Überschrift „con espressione“ unnötig sei, dass eine derartige Bezeichnung im Notentext lediglich bedeuten könne, dass ein musikalischer Gedanke mit außerordentlicher, überbordender Erregung darzubieten sei. Kritiken des 19. Jahrhunderts über musikalische Aufführungen loben gute Musiker mit einem „nervigen“ Spiel. Das Wort „nervig“ ist heute zu einer anderen Bedeutung gelangt. Überhaupt scheint alles, was eine innere Erregung beim Gegenüber verrät, ein Zeichen von Schwäche zu sein. Nervlich leicht zu erregende Personen werden als schwach empfunden, denn sie scheinen ihr Gefühlsleben nicht unter Kontrolle zu haben. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ scheint der Slogan unserer Generationen zu sein.
Menschen, die sich diese Erregbarkeit erhalten haben; Zuckergeister, sehen sich in unserer Welt der Kontrollsucht, der Perfektion (die etwas anderes ist als Vollkommenheit) als schwach, da ihre Stärke in unserer Gesellschaft zu einer Schwäche geworden ist: Gefühle zu haben und zu zeigen. Diese “ innere Bewegung”, das “bewegt sei”, der Gegensatz zu Stillstand, Starre und damit zum Tod aber machen den Musiker erst lebendig. Wo die Bewegung fehlt, ist keine Entwicklung möglich. Zuckergeister streben nach Entwicklung. Sie lassen sich nicht fesseln, sie lassen sich nicht kontrollieren, sie wollen nicht funktionieren, sondern die Energie der Nervosität nutzen, um nicht zum Ausgang zu rennen, sondern zur Pforte des Himmels zu streben.. Ja, das kann sich anfühlen wie Sterben.
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